Forum refurmo „Wiesen, Speck und Ämter - das Oberengadin im 16. Jahrhundert“ Vortrag von Guadench Dazzi am 12.11.21 in Zuoz

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe von „forum refurmo“ bot der Historiker Guadench Dazzi aus S-chanf in einem abwechslungsreichen Vortrag spannende Einblicke ins Leben im Oberengadin zur Zeit der Reformation. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich waren seine Ausführungen gehaltvoll, kamen doch ganze Kapitel in einem gepflegten Puter daher. Wunderbar selbstbewusst stand das Romanische hier gleichberechtigt neben der deutschen Sprache.

Erfreuliche Quellenlage

In einer kurzen Einleitung verglich der Historiker die Vergangenheit mit einer dunklen Decke mit Löchern, die punktuelle Schlaglichter auf eine längst vergangene Zeit werfen. Und für das 16. Jahrhundert, stellte der Referent erfreut fest, fanden sich in Form von überlieferten Schriftstücken erstaunlich viele solcher Löcher: Steuerlisten, Reglemente oder autobiografische Aufzeichnungen entpuppen sich als wertvolle Quellen, die das Leben damals dokumentieren, wobei Guadench Dazzi dazu einschränkend festhielt, dass die zufällig überlieferten Schriften fast ausschliesslich aus der Feder von Landammännern, Notaren und anderen Angehörigen der männlichen Oberschicht stammen. Eine zweite Einschränkung betrifft Bilder: Zum Engadin im 16. Jahrhundert existieren keine zeitgenössischen Darstellungen. Die ältesten erhaltenen Bilder entstanden am Ende des 16. Jahrhunderts.

Der historische Kontext

Das 16. Jahrhundert wird als Epoche der „Renaissance“ bezeichnet und war sowohl in kultureller als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine Blütezeit: Das Quattro- und Cinquecento brachte in Italien einige der bekanntesten Kunstwerke hervor wie das Abendmahl und die Mona Lisa von Leonardo da Vinci oder den David von Michelangelo. Nikolaus Kopernikus entwarf das „heliozentrische“ Weltbild mit der Sonne als Zentrum und Christoph Kolumbus hatte 1492 Amerika entdeckt. Kunst und Wissenschaft genossen hohes Ansehen und der Handel blühte.

Mitten drin stand das Engadin als Drehscheibe für den Nord-Südhandel. In Italien lernten die Engadinerinnen und Engadiner, wie Käse gemacht wird und setzten das Gelernte auf ihren gut organisierten Gemeinschaftsalpen erfolgreich um. Ihr Käse- und Butterexport dominierten bald den Markt in Bozen. Im Gegenzug wurden Salz, Weizen und andere Güter importiert. Je nach Bedarf waren die Engadiner als Kaufleute oder Handwerker unterwegs, kamen zu Geld und bildeten eine sehr mobile Oberschicht im Tal.

Aus dem Leben einer Engadiner Familie aus der Oberschicht

Die Dorfordnungen von Sils und Zuoz bieten interessante Einblicke in das Leben damals:
Verglichen mit Sils wohnten in Zuoz verhältnismässig viele Reiche. Cilgia Dusch war in Zuoz die wohlhabendste Frau. Sie heiratete Antoni Travers, der daraufhin „mastrel“, also Landamman, von Zuoz wurde. Ihre Tochter Ursina Travers vermählte sich später mit Fadri Salis. Die Familie Salis stammte ursprünglich aus Promontogno und wohnte in Samedan in der Chesa Planta. Da der Name „Travers“ zu jener Zeit weit „klangvoller“ war als „Salis“, nahm Fadri Salis den Familiennamen seiner Frau an. Fadri Travers bekleidet hohe Ämter im Untertanengebiet Chiavenna, ist viel unterwegs, korrespondiert mit wichtigen Persönlichkeiten wie dem Zürcher Reformator Heinrich Bullinger und bemüht sich im sogenannten „Speckkrieg“ 1565 um ein Bündnis mit Frankreich. Sein Sohn heiratet indes eine von Planta, deren Familie wiederum sich für die Gegenpartei Österreich und Spanien einsetzt, so findet im Engadin Weltpolitik im Kleinen statt.

Das Oberengadin wird reformiert

Ähnlich wie heute bestand um 1500 die Kirchgemeinde im Oberengadin aus drei Kreisen: dem Kreis „Seen - Lejs“ mit der Kirche von St. Moritz als Zentrum, dem Kreis Mitte mit San Peter in Samedan und dem Kreis „Plaiv“ mit San Luzi in Zuoz als Hauptkirche. Im Prinzip standen nur diesen Kirchen wichtige Sakramente wie Taufe, Eheschliessung und Eucharistie zu, die einzelnen Orte im Tal hatten sich aber schon früh von ihren Hauptkirchen emanzipiert. Die Kirchgemeinde Oberengadin hatte ihrerseits bereits Jahre vor der Reformation weitgehende Autonomie vom Bischof in Chur erlangt, so stand ihr im Art. 13 des Reglements von 1524 beispielsweise zu, eigenständig über Pfarrpersonen verfügen und sie jederzeit auch entlassen zu können.

Auf diesem Hintergrund war die Reformation im Oberengadin, wie Guadench Dazzi anmerkte, eine Art „Katalysator“ für eine Entwicklung, die bereits lange zuvor eingesetzt hatte. In Abstimmungen beschlossen die einzelnen Gemeinden jeweils, ob sie zum neuen Glauben übertreten wollten. Als erste Gemeinde trat Pontresina 1548 zum reformierten Glauben über, vier Jahre später folgte Zuoz bis 1577 schliesslich St. Moritz als letzte Gemeinde im Oberengadin zum reformierten Glauben fand. Aufruhr und Bildersturm blieben Ausnahmen, Statuen und andere Insignien des katholischen Glaubens wurden einfach nach Italien verkauft. Geschichten wie die über die „Pietigots“ von Pontresina, die angeblich ihre Heiligen in den Flaz warfen, entstanden später. Jacque Guidon hat diese und andere Erzählungen im amüsanten Büchlein „Ils surnoms da noss cumüns“ publiziert.

Erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts spitzten sich die Gegensätze zwischen den beiden Konfessionen zu, gipfelten 1618 im dreissigjährigen Krieg und bestehen mancherorts noch heute.

Gelebte religiöse Toleranz

Für den pragmatischen Umgang mit der Konfession finden sich verschiedene Beispiele: Die Bürger von Chamues-ch beispielsweise wechselten 1561 zum reformierten Glauben, fanden aber keinen reformierten Pfarrer, so änderte kurzerhand der katholische Priester vor Ort den Ritus von der Messfeier hin zum Predigtgottesdienst, damit war das Problem gelöst.

Konfessionell gemischte Ehen schlugen damals keine hohen Wellen. So heiratete 1567 die reformierte Anna Travers, Tochter des oben vorgestellten Fadri Travers den 27 Jahre älteren Katholiken Battista Salis. In der Folge konvertierte dieser zum reformierten Glauben. Detaillierte Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass das Hochzeitsfest der beiden prunkvoll gewesen sein muss.

In mancher Hinsicht war früher wohl tatsächlich Einiges besser

Die Geschichte der Menschheit wird gerne als lineare Entwicklung hin zu grösserem Wohlstand und mehr Fortschritt dargestellt. Was Medizin und Technik angeht, mag das zutreffen, die oben aufgeführten Beispiele aus dem Oberengadin im 16. Jahrhundert zeigen allerdings, dass zumindest Toleranz in religiösen Fragen keine moderne Erfindung ist.

Guadench Dazzi vergleicht den Verlauf der Geschichte denn auch eher mit einer Wellenbewegung mit Höhen und Tiefen ohne zwingende Verbesserung. In verschiedener Hinsicht führte das Referat des Historikers jedenfalls zu überraschenden Erkenntnissen.

Die Bildungsreihe „forum refurmo“ setzt sich am Freitag, 22. April 2022 im Gemeindesaal in Celerina fort, wo der Sprach- und Literaturwissenschaftler Rico Valär über die Entwicklung der Sprache während und nach der Reformationszeit berichtet.

Ester Mottini