Szenenapplaus aber sonst kein Rascheln oder Räuspern in der reformierten Dorfkirche Samedan

Am vergangenen Samstag nahm der Grossmünsterorganist Andreas Jost aus Zürich rund 80 Besucherinnen und Besucher in der reformierten Dorfkirche Samedan auf eine fantastische Reise in die vielschichtige Klangwelt von Johann Sebastian Bach mit.

Vom ersten bis zum letzten Ton des Konzertes blieb das Publikum im Bann der Musik. Das hing nicht zuletzt mit der differenzierten Interpretation des Organisten zusammen: In einer Leichtigkeit und Spielfreude, die ihresgleichen sucht, erzählte er entlang des Notentextes eine spannende Geschichte und entlockte dabei der kleinen aber feinen Orgel in Samedan erstaunliche Klänge.

 

Triosonate, eine technische Herausforderung der Extraklasse

Ein Paradestück ist die Triosonate in Es-Dur: Drei feine klare Stimmen weben ein filigranes Netz aus Thema, Antwort und Begleitung. Durchsichtig wirkt das Gewebe und unscheinbar kommt es daher, gehört technisch aber zum Schwierigsten, was es gibt. Was normalerweise drei Musizierende beschäftigt, übernimmt auf der Orgel eine einzige Person. Zwei Hände und zwei Füsse stehen dafür ja zur Verfügung. In den Triosonaten von Bach bewegen sich diese allerdings völlig unabhängig voneinander, was koordinatorisch eine Herausforderung der Extraklasse bedeutet. Andreas Jost steigerte die Schwierigkeit zusätzlich, indem er aus klanglichen Gründen einzelne Stimmen der Oktave versetzt spielte, was auch an Akrobatik grenzt. Unbeeindruckt davon perlte die Musik spielerisch leicht daher. Das Thema, das zu Beginn jedes Satzes prominent präsentiert wird, kam im Lauf des Stücks immer in der exakt gleichen musikalischen Gestalt daher, egal wie verschlungen und technisch kompliziert der Zusammenhang war.

Die Orgel, eine Maschine?

Anders als bei Klavier, Geige oder der menschlichen Stimme lässt sich der einzelne Ton bei der Orgel nicht modellieren. Der Druck auf eine Taste öffnet das Ventil einer Pfeife, der Ton erklingt und verschwindet beim Loslassen ebenso abrupt wie er gekommen ist. Die Klangfarbe wird zu Beginn des Stückes mit Registerzügen festgelegt. Wie kann Musik auf der Orgel also gestaltet werden? Da bleiben zum einen die Geschwindigkeit und zum anderen das Absetzen der Töne gegeneinander: Passagen können „ausgespielt“ also etwas verlangsamt und einzelne Töne oder Harmonien etwas länger ausgehalten werden, so erhalten sie mehr Gewicht. Melodien wiederum werden geformt, indem ihre Töne klanglich aneinander gebunden oder abgesetzt werden. 

Musik als mächtiges Ausdrucksmittel für Gefühle

Seit dem Zeitalter des Barock, aus dem die Werke von Johann Sebastian Bach stammen, kommt der Musik die Aufgabe zu, die Emotionen eines Textes in Klang und Melodie zu fassen. Die „Figurenlehre“ von Johann Mattheson  gibt dazu die Anleitung. Diesen „Code“ verstehen wir bis heute, so assoziieren wir schnelle Musik in hoher Lage automatisch mit Freude, während dunkle und langsame Melodien Trauer bedeuten. Dissonanzen sind mit Schmerz verbunden und den charakteristischen Sprung in der „Schicksalsmelodie“ der „Love Story“ weckt in uns ein Gefühl von Sehnsucht. Die Vorgaben dazu stammen alle aus dem 18. Jahrhundert.

Johann Sebastian Bach verstand es meisterhaft, den emotionalen Gehalt biblischer Texte in Musik zu giessen.

Vielschichtige Ausdeutung in den Kompositionen von Johann Sebastian Bach

Für das Konzert wählte der Grossmünsterorganist die verzierte Version Bachs zum traditionellen Adventslied „Nun komm der Heiden Heiland“. Eine solistische Oberstimme wird dabei mit einer schlichten Begleitung und einer gleichmässig dahinschreitenden Bassstimme unterlegt. Die reichen Verzierungen in der Solostimme können als sehnsuchtsvolles Bangen auf das Fest der Liebe verstanden werden. Gleichzeitig vermitteln die stetig voranschreitende Basstöne Hoffnung und Zuversicht, beides Gefühle, die den Advent ausmachen.

Ähnlich ambivalent fällt die Ausdeutung der zehn Gebote im Stück „Dies sind die heilgen zehen Gebot“ von Johann Sebastian Bach aus. Die Hauptmelodie ist hier als Kanon gestaltet, der wohl strengsten musikalischen Form, werden die Töne doch in einem bestimmten Abstand in verschiedenen Stimmen unverändert übernommen. Diese strenge Gesetzmässigkeit steht für die zehn Gebote. Der gleichmässige dahinschreitende Bass unterstreicht ihre Rechtmässigkeit noch. Auch wenn in der Literatur nicht beschrieben, so sind in den Begleitstimmen unverkennbar immer wieder „Seufzer“- und „Lamentomotive“ zu hören. Sind wir nicht, allen Vorsätzen zum Trotz, hoffnungslos Sündige?

Ester Mottini